
Werbung 4. Adventskalendergeschichte 2021 Türchen 21
Adventskalendergeschichte
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Hey, Hallo und schön, dass Ihr da seid.
Mit Türchen 21 haben wir nun nur noch drei Türchen vor uns.
Das heutige Türchen 21.12.2021 kommt von Autorin Nathalie C. Kutscher.
Türchen 21
Als wir an Ilses Bett stehen, greife ich nach ihrer fast blutleeren, kalten Hand. Zart und zerbrechlich wirkt sie, die Haut dünn wie Pergament. Noch immer will mir nicht einleuchten, warum ich diese herzensgute Frau als so böse empfand. Es war kein Traum, denn ich war ja wach gewesen. Es war vielmehr eine Vision, etwas, das ich kaum in Worte fassen kann. Ob sie spürt, dass sie nicht alleine ist? Ich blicke auf. Helga, Michaela und die kleine Karin stehen mit gesenkten Köpfen neben mir. Alle, die Ilse im Leben etwas bedeutet hatten, sind hier. Sie muss es spüren! Sie muss wissen, dass sie in ihren vielleicht letzten Stunden nicht vergessen wurde.
Ich merke, wie der Rubin, der sich wieder in meiner Manteltasche befindet, zu pulsieren beginnt. Beinahe kann ich ihn hören. Ein leichtes Surren erfüllt den Raum, wie von einem Schwarm Bienen. Verstohlen sehe ich zu den anderen rüber. Hören sie es auch? Wohl kaum, wie ich ihren Mienen entnehmen kann. Warum ich? Warum hat der Stein mich gewählt? Denn im Grunde war es ja so, auch wenn ich zu diesem Stand gegangen bin. Aber war das wirklich meine Entscheidung gewesen? Oder hatte irgendeine göttliche Macht ihre Finger im Spiel?
Plötzlich habe ich einen bekannten Duft in der Nase. Vanillekipferl. Genauso roch es immer in Ilses Küche. Leises Lachen dringt an mein Ohr und instinktiv schaue ich hoch. Doch keine meiner Gefährtinnen hat gelacht. Ihre Gesichter sind immer noch bitterernst. Da, wieder erklingt dieses feine Lachen, wie das eines Kindes.
„Susanne“, ruft ein kleines Mädchen. „Susanne, komm, ich will dir etwas zeigen.“
Ich spüre, wie Ilses schlaffe Hand, die ich immer noch festhalte, einen leichten Druck ausübt. Wenn ich wissen will, warum dieser Tag so verrückt war, muss ich dem Mädchen folgen. Ich lasse mich von Ilse leiten. Die Hand, die in meiner liegt, ist plötzlich nicht mehr faltig und alt, sondern die eines gesunden Kindes.
„Bist du das, Ilse?“, wispere ich.
„Natürlich, Dummerchen.“ Die Kleine lacht aus vollstem Herzen und präsentiert mir dabei eine Zahnlücke. „Ich will dir zeigen, was Weihnachten bedeutet. Ihr habt ihn alle vergessen, den wahren Grund für Weihnachten.“
Gemeinsam betreten wir ein Haus, welches ich als Ilses Elternhaus identifiziere. Im Wohnzimmer, in dem ein großer Kachelofen für mollige Wärme sorgt, sitzt eine Familie im Kreis zusammen. Ich erkenne, dass es sich um Ilses Familie handelt. Oft hat sie mir alte Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus den frühen Zwanzigerjahren gezeigt.
„Da, siehst du?“, fragt sie mich leise, so als wollte sie die Harmonie dieser Erinnerung nicht zerstören. „Das war meine Lieblingspuppe. Mein Vater hat sie mir geschenkt, als er wegen einer Verletzung auf Heimaturlaub war. Wir waren so glücklich, dass er an diesem Weihnachten von der Front nach Hause durfte. Die Puppe steckte wochenlang in seinem Rucksack, sie war nicht mal neu. Er hatte sie gefunden, deswegen sieht sie auch etwas abgenutzt aus. Aber das war mir egal. Für mich war nur wichtig, dass er wohlbehalten zu Hause war. Es war das letzte Weihnachten, das wir gemeinsam feiern durften.“
In ihrer Stimme liegt Traurigkeit. Ich beginne zu verstehen. Egal ob diese Puppe verfilztes Haar hatte und ihr ein Auge fehlte, sie war das Letzte, was Ilse von ihrem geliebten Vater bekommen hatte. Die Wichtigkeit lag nicht auf dem Geschenk als solches, sondern in der Dankbarkeit, dass die gesamte Familie in dieser schweren Zeit friedvolle, gemeinsame Stunden verleben durfte.
„Du weißt jetzt, wie dein Stück enden muss, Susanne.“ Ilse sieht mich an. Ihre blauen Augen leuchten. „Verbringt die Festtage gemeinsam. Gebt denen, die nichts haben und sei es nur eine warme Suppe. Ihr wisst nie, wie viele Weihnachten ihr noch erleben werdet. Nutzt die gemeinsam Zeit, hörst du? Sage den anderen Lebewohl von mir. Ihr wart mir auch eine Familie und ich bin dankbar, euch in meinem Leben gehabt zu haben.“
Ich sehe immer noch ihre blauen Augen, ihr Gesicht, auf dem ein verschmitztes Lächeln liegt. Es fängt an zu verblassen, ihre Hand löst sich von meiner und dann ist Ilse verschwunden.
Ein Arm umfängt mich. Auch ohne hinzusehen, weiß ich, dass es Michaela ist, denn ich erkenne ihr Schluchzen.
„Ilse ist tot“, sagte sie tonlos.
„Ja“, gebe ich zurück. Ich muss nicht weinen, noch nicht. „Ich weiß jetzt, wie mein Stück enden wird.“
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