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24. Türchen der Adventskalendergeschichte

24. Türchen – Autorin Katharina Gerlach

 

Natürlich fiel es ihr schwer, einzuschlafen. Oder war sie nie aufgewacht? Es konnte doch nicht real sein, dass sie dem Weihnachtsmann begegnet war, oder doch? Sie warf die Bettdecke zurück und starrte erstaunt auf ihre Beine. Dicke Bündel aus Handtüchern waren um ihre Waden gewickelt und rochen stark nach Kräutern. Wadenwickel? War sie krank gewesen? Verwirrt sah sie sich um.
Auf ihrem Nachtschrank stapelten sich wie immer ihre Lieblingsbücher. Märchenbücher mit Gnomen und Elfen auf den Titelbildern, Fantasyschinken mit Engeln, Werwölfen, Friedhöfen oder Portalen in fremde Welten waren dort recht wackelig übereinander gestapelt. Auch ein Bilderbuch mit einem Rentier lag dazwischen. Und ganz oben, über einem Gedichtband, lag ein Graphic Novel über Santa Claus.
Das ist doch seltsam. Katharina dachte an ihre verwirrenden Abenteuer zurück. Rückblickend waren sie nicht nur verwirrend, sondern wirkten sie ein Kaleidoskop ihrer liebsten Geschichten. Alles war wie wild durcheinander gewirbelt. Die zwölf Monate waren zu einer Glühweinorgie geworden, die Regenballade zu einem Teil des Albtraums, die Eichhörnchen aus Charlies Schokoladenfabrik … nur gut, dass sie sie nicht für eine hohle Nuss gehalten hatten. Wie viele ihrer Abenteuer hatte sie tatsächlich erlebt?
“Frohe Weihnachten!” Die Tür ging auf und Oma kam herein. Ihr folgte ein Eichhörnchen mit einem Tablett, auf dem belegte Brote, eine Handvoll Kekse und ein Becher Kakao standen. Katharina kniff die Augen zu. Nein, das war kein Eichhörnchen.
“Michaela? Bist das jetzt wirklich du?” Am liebsten hätte sich Katharina geohrfeigt für diese dumme Frage, aber sie musste gestellt werden. In den letzten Tagen war viel zu viel passiert, das nicht richtig zusammenpasste.
“Ich sagte ja, dass es heute überstanden sein würde,” meinte Oma. Lächelnd setzte sie sich auf den Rand von Katharinas Bett. “Du hast bestimmt viele, viele Fragen, mein Kind.” Die Wärme, die ihr faltiges Gesicht ausstrahlte, war so beruhigend normal, dass sich Katharina etwas entspannte.
“Ja. Ja, die habe ich.” Sie zeigte auf die Wadenwickel.
“Da kommen wir gleich zu. Jetzt iss erstmal was.” Michaela stellte ihr das Tablett auf den Schoß. “Du musst doch furchtbar hungrig sein.”
Erst jetzt spürte Katharina die Leere in ihrem Magen. Wie lange hatte sie nichts mehr gegessen? Sie griff beherzt zu.
“Du bist eine Bücherwanderin. Das ist etwas ganz Besonderes.” Omas Hand ruhte warm auf Katharinas Schulter. “Da du noch jung und unerfahren bist, hat dich dein Talent überrollt. Daher die vielen, wirren Erlebnisse.”
“Also habe ich nur geträumt?” Katharina sprach um das Brot in ihrem Mund herum.
“Nein.” Michaela schüttelte den Kopf. “Jedes einzelne Erlebnis war ganz und gar real.”
“Du hast nur alle möglichen Geschichten auf eine Weise vermengt, wie es vor dir noch niemand getan hat.” Oma lächelte. “Zum Glück ist Kathrin eine erfahrene Bücherwanderin und hat alles wieder so geordnet, dass es niemand merken wird.”
Michaela, die neben Oma stand, nickte zustimmend. “Und diese ungestüme, fast explosive und sehr rasante Entwicklung deiner Fähigkeiten, führte bei dir zu hohem Fieber.”
“Daher die Wadenwickel?”
Ein erneutes Nicken. Katharina dachte lange, schweigend nach. Schließlich stellte sie die Frage, die für sie in diesem Moment die entscheidende war.
“Heißt dass, dass es den Weihnachtsmann doch gibt? Hab ich ihm wirklich geholfen?” Mit großen Augen und angehaltenem Atem wartete sie auf eine Antwort.
“Ja, mein Kind, wenn auch nicht in unserer Welt.” Omas Lächeln war so voller Liebe, dass Katharinas Herz vor Glück schmerzte. “Und dadurch, dass du dem Weihnachtsmann geholfen hast, hast du auch dich selbst von dem Durcheinander deiner Erlebnisse befreien können.”
Michaela grinste breit. “Jetzt bist du bereit, alles zu lernen, was du brauchen wirst, um solche Ereignisse zu beherrschen, ohne von ihnen beherrscht zu werden. Karin sagt, es gäbe keine bessere Magie als die der Bücherwanderinnen.”
Sie? Eine Magierin? Katharina konnte es kaum glauben, aber je öfter ihr Blick zwischen dem erwartungsvollen Gesicht ihrer Oma und dem Stapel ihrer Lieblingsbücher hin und her wanderte, desto höher stieg ihre Freude. War das das coolste Weihnachten aller Zeiten, oder was? Wenn sie an de Möglichkeiten dachte, grinste sie ebenso breit wie Michaela.
“Nun kommt aber mal runter. Wir wollen den Weihnachtsbaum schmücken”, sagte Michaela. “Helga und Karin warten schon.”
“Ich beeile mich mit dem Anziehen. Geht ruhig vor.” Katharina griff nach ihrer Jeans, während Michaela mit dem Tablett und Oma bereits zur Tür gingen.
Bevor sie die Tür hinter sich zuzog, zeigte Oma zum Fenster und sagte: “Ich hatte übrigens recht mit dem Winter.”
Draußen breitete sich eine weiße Welt aus. Doch Katharinas Blick klebte an den Schlittenspuren, die vom Haus auf den Gartenzaun zu führten und dann so abrupt endeten, als wäre der dazugehörige Schlitten fortgeflogen.
Ein Lächeln glitt ihr übers Gesicht. Ihr Leben versprach interessant zu werden.

Türchen 24

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