
16. Türchen der Adventskalendergeschichte
Türchen 16 – Autorin Erina Rens
Ihr Inneres gefror zu Eis, weil sie nicht wusste, wo sie sich befand. Alles um sie herum war fremd, nichts war vertraut. Katharina blinzelte, ihr Blick gewann an Schärfe und sie schnappte nach Luft. So viele Fragen schwirrten ihr im Kopf herum, doch die Zunge klebte ihr am Gaumen, so sehr fürchtete sie sich vor dem Unbekannten oder hatte sie den unbändigen Durst doch dem Trunk der zwölf Gestalten mit den glühenden Augen zu verdanken?
Katharina sah sich weiter um, erblickte eine niedrige Holzdecke, die mit unzähligen Bündeln an getrockneten Kräutern behangen war. Ein vertrauter Duft durchzog die kleine Holzhütte. Es roch nach Heidekraut, Basilikum und Ringelblumen. Von weither drang erneut das Jaulen eines Wolfes zu ihr herüber, doch im Gegensatz zum letzten Mal klang es weniger bedrohlich.
„Wo bin ich hier?“, raunte Katharina kaum hörbar. Ein Summen erreichte ihre Ohren und schließlich erblickte sie ein Wesen, das mit dem Rücken zu ihr an einem Kessel werkelte. Eine rötliche Flüssigkeit brodelte darin und immer wieder zupfte die Unbekannte Kräuter von der Decke, um sie im Topf zu versenken. Nach jeder Zugabe wechselte das Gebräu die Farbe. Von Rot zu Grün, von Grün zu Blau und schließlich zu einem hellen Gelb, das einem gleißenden Licht glich, das Katharina blendete. Schnell kniff sie die Augen zu und schrie auf, als sie diese wieder öffnete. Die Fremde hing über ihr. Sie war tatsächlich grün, doch besaß sie weder Warzen, noch war sie hässlich. Ein Kobold, nein, eine kleine Elfe mit einer irrwitzigen roten Mütze auf dem Kopf und einem wunderschönen Gesicht blickte ihr entgegen.
„Hab keine Angst, bei mir bist du sicher.“ Ihre Stimme klang melodisch und freundlich. Wie ein altbekanntes Lied, das Katharina irgendwo gehört haben mochte. „Mein Name ist Elfriede, aber du kannst mich Elfie nennen. Komm, du kannst dich später ausruhen. Jetzt musst du deine Vorsehung erfüllen.“
Elfriede half Katharina auf und führte sie auf wackeligen Beinen zum Tisch. Unsicher nahm sie Platz und griff nach dem gereichten Becher mit eben dieser Flüssigkeit aus dem Kessel. Inzwischen schimmerte sie Indigoblau und Katharina spähte skeptisch in den Becher.
„Weshalb bin ich hier?“ Die Neugier siegte doch, Katharina musste einfach wissen, was vor sich ging.
„Das weißt du nicht?“ Elfriede runzelte die Stirn. „Woran kannst du dich erinnern?“
„Ich habe wirr geträumt, über Höhlen, Wölfe, Manolo Blahniks und Eichhörnchen. Zuletzt befand ich mich im Schuppen meines Opas und trank etwas, das einfach furchtbar schmeckte, dann wachte ich hier auf. Wo bin ich eigentlich?“ Erneut sah Katharina sich um. Eine kleine Holzhütte mit einem kleinen Fenster, das schneebedeckte Tannen zeigte.
„Am Nordpol, selbstverständlich. Versteckt in einem dichten Wald.“
„Versteckt, aber warum?“
Elfie nahm ihr gegenüber Platz und nippte an ihrem Getränk. Es schien ihr zu schmecken, also legte Katharina den Becher an die Lippen und …
„Warte, das darfst du noch nicht trinken. Das ist ein Zaubertrank.“ Draußen klopfte es laut gegen die Tür. Nervös sah Elfriede sich um. „Hör zu, wir müssen uns beeilen. Leider fehlt uns die Zeit für lange Erklärungen. Einiges von dem, was du erlebt hast, ist tatsächlich passiert. So ist der Weihnachtsmann tatsächlich schwer erkrankt und Kräuterelli ist wirklich seine letzte Hoffnung. Sie muss ihn heilen, doch das wird sie ohne ihr Rezeptbuch nicht vollbringen können. Es wurde ihr von dem bösen Waldgeist gestohlen. Hat sie dir davon erzählt?“
Katharina schüttelte verneinend den Kopf und lauschte gebannt Elfriedes Stimme.
„Das dachte ich mir schon. Sie ist eine wunderbare Kräuterhexe, doch ohne das Buch der großen Magier wird sie gegen den starken Zauber nichts ausrichten können. Deshalb bat ich Michaela, Helga und Karin um Hilfe. Sie schickten dich durch all diese Geschichten, in der Hoffnung, du würdest das Buch finden, doch so war es nicht. Ich fürchte, du musst dich noch einmal auf Reisen machen, in die Tiefen des Waldes, dorthin, wo der Waldgeist wohnt. Der Wolf, Hyägel … er wird dich dorthin bringen und für deinen Schutz sorgen. Ihn musst du nicht fürchten, er würde für den Weihnachtsmann sein Fell hergeben.“
Erneut klopfte es an der Tür und das Geheul des Wolfes erklang nun ganz nahe.
„Hyägel ist bereit, hier, nimm das …“ Elfriede drückte Katharina eine warme Jacke, Handschuhe und eine Mütze in die Hände, während sie ihr einen Schal umlegte. „Du musst sofort los und bitte denk immer daran, wie traurig alle Kinder dieser Welt wären, wenn es den Weihnachtsmann nicht mehr gäbe! Wir müssen ihn retten, wir müssen!“ Eine Träne rann über Elfriedes Wange, die sie rasch wegwischte. Dann schob sie Katharina zur Tür und drückte ihr den Becher erneut in die Hände. „Jetzt darfst du es trinken, es wird dich stärken.“
„Aber was muss ich tun, wenn ich den Waldgeist gefunden habe? Wo hält er denn das große Buch der Magier versteckt?“ Erneut klopfte es. Das Jaulen schwoll zu einem Knurren heran.
„Schnell, wir dürfen keine Zeit verlieren.“ Elfriede wirkte gehetzt. „Trink den Zaubertrank und währenddessen erzähle ich es dir.“
Katharina setzte den Becher an die Lippen und begann zu trinken. Die Flüssigkeit schmeckte wunderbar, nach warmem Kakao und Himbeermarmelade.
„Hör gut zu, Katharina. Auf keinen Fall darfst du vergessen, was ich dir jetzt erzähle. Sobald du dem Waldgeist begegnest, musst du dich unbedingt …“
Türchen 16

